Pucki


 

Es war am Heiligen Abend und ich drei Jahre alt. Unsere Eltern waren vor einer gefühlten Ewigkeit im Wohnzimmer verschwunden, in das meine große Schwester und ich den ganzen Nachmittag lang schon nicht hinein gedurft hatten, und die Tür blieb fest verschlossen. Nach dem traditionellen Mahl, bestehend aus Kartoffelsalat und Würstchen, mussten wir beide lange im Flur warten, bis auf einmal ein Glöckchen ertönte und die Wohnzimmertür sich öffnete.

Die Stube war in das warme Licht der Weihnachtskerzen getaucht, und unsere Eltern luden uns ein hereinzukommen. Mein Herz schlug höher, und ich ging wie verzaubert mit zögernden Schritten in den Raum hinein.
Alles sah ganz anders aus als sonst, festlich und geheimnisvoll, und ich staunte. In einer Ecke des Zimmers stand ein Tannenbaum, der mit brennenden Kerzen und goldglänzendem Weihnachtsschmuck herausgeputzt war.

Unter dem Baum lagen viele Pakete in buntes Papier eingewickelt und mit farbigen Bändern verschnürt. Es gab mehrere Haufen von kleinen und größeren Päckchen, für jeden von uns einen. Und nachdem wir einige Weihnachtslieder gesungen und Gedichte aufgesagt hatten, machten wir uns alle zugleich ans Auspacken. Ich weiß heute nicht mehr, was ich damals alles geschenkt bekam, ich weiß nur noch, wie meine Mutter mich, als endlich alle Gaben ausgepackt waren, näher an den Stamm des Baumes führte, der in einem Metallständer steckte, und mir etwas zeigte.

Dort stand im dunklen Schatten des Weihnachtsbaumes eine kleine menschenähnliche Gestalt mit einem weißen Bart. Nein, es war nicht der Weihnachtsmann, denn dieser hier trug eine grüne Zipfelmütze auf dem Kopf, war mit einer roten Jacke und grauen Hosen bekleidet und hatte braune Lederschuhe an den Füßen. Ein ebensolcher Gürtel und eine Umhängetasche vervollständigten seine Ausstattung.
Sein Gesicht lächelte freundlich, und seine Nase und die Bäckchen waren rot. So klein wie ich war, wusste ich jedoch sogleich, was das für einer war, denn die Bilder von Zwergen kannte ich aus meinen liebsten Büchern. Ich nahm ihn vorsichtig an mich, und meine Mutter erzählte mir eine Geschichte dazu. Sie berichtete, den Weihnachtsbaum hätten die Zwerge heimlich geschmückt. Und als sie ins Zimmer gekommen sei, da wären sie alle ganz schnell verschwunden. Nur dieser eine hier, der wäre zu langsam gewesen, und deswegen sei er jetzt noch da.

O wie tat er mir Leid! So ganz allein und ohne seine Familie und seine Zwergenfreunde zu sein! Ich beschloss am selben Abend noch, ihn immer ganz besonders liebevoll zu behandeln, um ihn über seinen schlimmen Verlust hinwegzutrösten. Mein Versprechen hielt ich und war darüberhinaus im Laufe der nächsten zehn Jahre felsenfest davon überzeugt, dass er jede Nacht, wenn ich schlief, gemeinsam mit meinen vielen Stofftieren und den wenigen Puppen zum Leben erwachte und fröhliche Feste feierte. Natürlich setzten sich alle an jedem Morgen wieder ganz genau so hin, wie ich sie am Abend zuvor verlassen hatte, denn ich sollte ja auf keinen Fall etwas davon merken!

Zu seinem Namen kam der Zwerg durch das kleine runde Pappschild mit dem roten Rand und dem gelben Teddykopf, das er an der Jacke trug und sogar heute noch trägt, denn es gibt ihn noch. Aber ich glaube, sein wirklicher Name lautet anders. So behutsam bin ich
und später meine Kinder mit ihm umgegangen, dass nur sein kleines Kautschukgesicht vom Alter – er ist immerhin fast sechzig Jahre alt - etwas angegriffen ist, und der Gürtel und die Tasche fehlen. Ich habe ihm aber schon neue Ledersachen versprochen. Er lächelt mich noch immer so freundlich und verschmitzt an wie damals, und ich denke, er freut sich ganz besonders, weil wir demnächst mit einer Gruppe von Menschen in die Natur gehen und seinesgleichen aufsuchen wollen.

2012

 

Pucki oder so...
Pucki oder so...

"Die Menschen suchen nicht nach dem Sinn des Lebens, sondern nach dem Gefühl, lebendig zu sein" (Joseph Campbell)

Alle Dinge, die uns materiell entgegentreten, sind nur die äußere Hülle von geistigen Wesenheiten.

(Rudolf Steiner)

Geduld zu haben bedeutet, der Schöpfung zu vertrauen. (Huna)

Da Du schon alles weißt,

mag ich nicht beten –

tief atme ich ein,

lang atme ich aus,

und siehe:

Du lächelst.

H. Heim