Die Apfelgöttin

und

das Geheimnis

der Leben spendenden Äpfel

 

 

Vor einigen Tausend Jahren lebte im Land der Babylonier eine wunderschöne Göttin namens Gula, die einen großen Zaubergarten besaß, in dem sie auch wohnte. In der Mitte dieses Gartens stand ein mächtiger, uralter Baum, der das ganze Jahr über gleichzeitig sowohl zarte, duftende Blüten als auch reife, süße Früchte trug.

Genau über diesem Baum aber stand der volle Mond und blickte freundlich auf die Göttin hernieder, denn er war ihr Mann und Geliebter und wollte immer nur sie anschauen, weil er sie so sehr liebte. Jede Nacht stieg er zu ihr herab, und dann verbrachten sie eine wunderbare Zeit miteinander.

Alle Menschen, die Gula in ihrem Garten besuchen kamen, wurden von ihr freundlich empfangen und erhielten als Geschenk und Wegzehrung so viele Früchte, wie sie nur tragen konnten, denn der Baum hatte mehr als genug davon.

Mit diesen Früchten aber hatte es eine besondere Bewandtnis, denn wer von ihnen aß, der musste nie mehr Hunger leiden, und er blieb jung und gesund sein Leben lang.

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Einige Jahrhunderte später lebten am Rande der bewohnten Welt ein paar Schwestern von Gula, welche die Hesperiden genannt wurden, manchmal auch die Afrikanischen Schwestern. Sie bewohnten ebenso wie Gula einen Garten, und ihre Äpfel waren sogar golden. Allerdings waren diese nicht mehr für das einfache Volk bestimmt, sondern dienten nur den olympischen Göttern zur Speise und zum Erhalt ihrer ewigen Jugend. Zur Bewachung der kostbaren Äpfel aber wurde ein hundertköpfiger Drache eingestellt. Vielleicht war es aber auch eine Schlange, die als Gefährte und heiliges Tier der Göttin seit alter Zeit gilt. Als einzigem Sterblichen gelang es nur dem Superhelden Herakles einmal, in den Genuss dieser Äpfel zu kommen.


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  An wieder einem anderen Ort im Nahen Osten lag noch ein Garten, in dessen Mitte auch ein Baum mit wunderbaren Äpfeln stand. In diesem Garten lebte ein Menschenpaar. Der Garten gehörte ihnen aber nicht, er gehörte auch keiner freundlichen Göttin mehr, sondern einem zornigen, eifersüchtigen Gott.

Dieser Besitzer hatte den beiden Menschen strengstens verboten, von jenen bestimmten Früchten zu essen. Doch eines Tages kam eine Schlange vorbei. Es war fast so eine, wie sie im Garten der Hesperiden eingesetzt worden war, um die Früchte zu bewachen. Wahrscheinlich konnte diese Schlange nicht ganz einsehen, warum etwas so Wunderbares wie die köstlichen Früchte den Menschen vorenthalten werden sollte. Deshalb pries sie der Frau die Äpfel als etwas ganz besonders Gutes an und riet ihr, trotz des Verbotes mal einen zu kosten. Diese probierte eine Frucht ungeachtet ihres ziemlich schlechten Gewissens und gab sie dann an ihren Gefährten weiter, damit auch der sie versuchen konnte.

Später bekamen die beiden deswegen gewaltigen Ärger mit dem Besitzer des Gartens, der sie zur Strafe hinausjagte, schwer bewaffnetes Personal vor dem Eingang postierte und ihnen zu guter Letzt noch allerlei Verwünschungen hinterher rief.

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Hoch im Norden lebten einige Zeit danach wieder ganz andere Götter. Oder waren es vielleicht sogar die gleichen, die sich nach dem Umzug nur neue Namen gegeben hatten? Unter ihnen war jedenfalls eine, die hieß Idun, welches „die Erneuernde“ oder „die Verjüngende“ bedeutet, und sie war zuständig für die Jugend, die ewige Schönheit und die Unsterblichkeit der Götterfamilie.

 

Es gab zwar auch hier einen Garten, der hieß Midgard, aber der gehörte nicht mehr der Göttin. Sie besaß gar keinen eigenen Garten mehr und auch keinen Baum, denn alles Land gehörte inzwischen den Männern und was darauf wuchs auch. Ja sogar die Frauen waren ein Eigentum zuerst ihrer Väter und später ihrer Brüder oder Ehemänner. Deshalb wurde auch nur Iduns Vater erwähnt, der ein Zwerg war, und später ihr Ehemann, der berühmte Dichter Bragi.

 

Sie aber war als Hüterin der Äpfel eingesetzt worden, die auch hier golden waren, genauso wie die der Hesperiden. Von ihr ist nichts Weiteres zu berichten, als dass sie einmal zusammen mit ihren Äpfeln entführt und an einen Feind der Götter ausgeliefert worden war, wonach diese sogleich zu altern anfingen. Aus jenem Anlass wurde sie so schnell als möglich wieder zurückgeholt, und zwar versteckt in einer Nuss, denn immerhin war ihr Vater ein Zwerg gewesen.

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Einige Jahrhunderte später stand am Grunde eines Brunnens in einem Land, welches wiederum einer anderen Göttin gehörte - oder war es sogar dieselbe? - auf einer grünen Wiese ein Baum, dessen Äpfel zwei Mädchen namens Marie zuriefen, dass sie schon reif wären. Die erste Marie pflückte sie sogleich und wurde dafür später mit Gold überschüttet, die zweite ließ die Äpfel hängen und wurde deshalb später vom Pech verfolgt.

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Und dann war da noch eine schöne Königin, die leider ziemlich neidisch war und deshalb ihre noch schönere Stieftochter aus dem Weg räumen wollte. Vielleicht lebte sie aber auch nur nach den Gesetzen des alten Weges und kannte das Geheimnis der Leben spendenden Äpfel und war von diesen braven und adretten Vatertöchtern der neuen Herrscher ziemlich genervt. Nachdem das mit dem Fortschaffen nicht so ohne Weiteres geklappt hatte, besuchte sie die junge Frau in der Verkleidung einer alten Hexe. Sie schenkte ihr einen Apfel, dessen eine Hälfte sie vergiftet hatte. Ihre eigene Portion war bekömmlich, die andere brachte die schöne junge Frau fast um. Oder war das vielleicht sogar als Initiation gedacht? Zum Glück oder auch nicht, wer weiß das schon so genau, kam in dem Moment ein Prinz, der die schlafende Schöne rettete. Wie die Geschichte wohl sonst ausgegangen wäre?

Ein langer Weg für einen Apfel von der milden und großzügigen Göttin Gula, die mit den süßen Früchten Leben für alle spendete, bis hin zur verkleideten Hexe, die mit der gleichen Frucht töten – oder vielleicht doch nur verwandeln? - wollte.

 

Und der Mann im Mond ist unterwegs leider ganz verloren gegangen. Oder hat er sich vielleicht nur als Prinz verkleidet?

2007

 

"Die Menschen suchen nicht nach dem Sinn des Lebens, sondern nach dem Gefühl, lebendig zu sein" (Joseph Campbell)

Alle Dinge, die uns materiell entgegentreten, sind nur die äußere Hülle von geistigen Wesenheiten.

(Rudolf Steiner)

Geduld zu haben bedeutet, der Schöpfung zu vertrauen. (Huna)

Da Du schon alles weißt,

mag ich nicht beten –

tief atme ich ein,

lang atme ich aus,

und siehe:

Du lächelst.

H. Heim